Respekt braucht Grenzen

Im März prangte auf der Titelseite des SPIEGEL die Überschrift: „Tierisch wütend. Warum so viele Menschen im Alltag die Nerven verlieren und ausrasten“. Anscheinend haben wir die Bedeutung von Respekt vergessen. Denn wer die Augen offenhält, sieht im Alltag viele Beispiele für respektloses Verhalten. Und wenn ich dann in meinen Veränderungsprojekten die Führungskräfte frage: „Was versteht Ihr unter Respekt?“ – bekomme ich überraschende Antworten.

Wer das Wort Respekt benutzt, wird nicht mit fragenden Augen angeschaut. Denn Respekt ist kein Fremdwort, sondern eher ganz normale Alltagssprache. Doch je banaler ein Begriff scheint, desto dringender haben wir es nötig, ihn zu definieren.

Was verstehst Du unter Respekt? Diese Frage stelle ich in Unternehmen regelmäßig. Die Antworten drehen sich dann meist um Ansehen. Achtung. Anerkennung. Und dann wird in den Diskussionen schnell klar, dass Respekt eine Hierarchie braucht. Eine Rangordnung. Denn man hat Achtung vor dem Ranghöheren. Vor dem Besseren. Schnelleren. Stärkeren.

Wer nach Respekt strebt, weil er eigentlich Ansehen gewinnen möchte, muss in einen Wettbewerb einsteigen. Ein gesundes Maß an Ellbogen, Dominanz und Einfluss sind die wesentlichen Zutaten, um das Respekt-Elixier anzurühren. Kein Wunder also, dass der Konkurrenz- und Leistungsdruck in unserer Gesellschaft zunimmt — trotz des ganzen „wir haben uns alle lieb“-Weichspülers. Denn wer will in der Nahrungskette schon unten stehen?

Keine Kompromisse am Anfang

In meinen Seminaren gibt es dann plötzlich einen Wendepunkt. Nachdem die Diskussionen heiß gelaufen sind, frage ich die Teilnehmer: „Wenn Ihre Definition von Respekt etwas mit Ansehen, Achtung und Anerkennung zu tun hat – Was bedeutet denn dann für Sie respektvolles Verhalten?“

Die Menschen halten einen Moment inne. Und dann ... wendet sich das Blatt. Auf einmal bekommt das Wort Respekt eine neue Bedeutung. Dann hat Respekt auf einmal nichts mehr mit Dominanz, Hierarchie und Gewinnen-wollen zu tun. Stattdessen geht es jetzt um das zivilisierte, menschliche Miteinander.

Und so hatte ich vor einigen Jahren die erleuchtende Erkenntnis: wenn es um den Menschen geht, brauchen wir gesunden Menschenverstand und den Mut, uns auf die Basics zu konzentrieren. In der Wirtschaft sind es nicht die komplizierten Kommunikations- und Führungsmodelle, sondern die Basics, die den entscheidenden Unterschied machen. Also zum Beispiel die Frage: Was bedeutet für Dich Respekt? Und wie sieht dann vor allem respektvolles Miteinander aus? Dass der Schlüssel für ein gelungenes Miteinander in den einfachen Banalitäten liegt, gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern für unser Zusammenleben allgemein.

Respekt hat nichts mit Ansehen zu tun

Wer nach Respekt für alle ruft, macht einen entscheidenden Fehler. In unserer neurotischen Gesellschaft müssen wir Respekt begrenzen, anstatt ihn zu erweitern. Doch bevor wir dazu kommen, lassen Sie uns zunächst mal klären, was Respekt eigentlich bedeutet.

Ich habe lange darüber nachgedacht und viele Diskussionen mit Menschen aus allen möglichen Ländern geführt. Dies ist meine aktuelle Definition:

Respekt bedeutet, ich akzeptiere, dass mein Gegenüber anders ist als ich.

Das heißt, dass er anders denkt, anders fühlt und anders handelt als ich.

Und das ist gar nicht so einfach zu leben. Wie schnell verurteilen wir Menschen, gerade weil sie anders sind als wir. Ein paar Beispiele.

  • Frauen. Ich erlebe regelmäßig, dass sie nicht gleich behandelt werden. Der Klassiker sind Besprechungen mit lauter Herren in dunklen Anzügen und nur ein oder zwei Frauen. Immer wieder grätscht einer der Herren der Frau in ihre Ausführungen und unterbricht sie einfach. Das ist kein Respekt. Sondern Dominanz. Doch um das zu ändern, braucht es keine Frauenquote, sondern eine neue Haltung der Herren.

  • Dumme Mitarbeiter. Das „dumm“ entspricht hier der subjektiven Bewertung durch den Vorgesetzten. Wenn ein Mitarbeiter einmal diesen Stempel hat, kann er noch so gute Argumente vortragen. Sein Chef wird ihm einfach nicht richtig zugehören. Das Blöde daran: die Beurteilung der Intelligenz basiert häufig auf ersten Eindrücken. Also Aussehen, Stimmlage, Betonung, Akzent. Diese Faktoren mögen zwar die Sympathie beeinflussen, haben jedoch mit der Intelligenz des Menschen in der Regel nichts zu tun.

  • Flüchtlinge. Ich erlebe im Alltag bereits Alltags-Rassismus. Es werden Menschen auf Grund von Aussehen in Schubladen gesteckt und verurteilt. Dann kommen böse Sätze wie: „Die Moslems sind gefährlich“. Und gleichzeitig werden einzelne Personen als positive Ausnahmen erwähnt: „Aber der Ahmed ist nett.“ Ahmed ist ebenfalls Moslem. Wohnt im gleichen Haus. Ist seit Jahren guter Nachbar. Dieser Trend, Gruppen zu verunglimpfen und Einzelpersonen als positive Ausnahmen zu sehen, ist verdammt gefährlich! Wehret den Anfängen…

Ob Geschlecht, Körpergewicht, Bauchumfang, Religion, Herkunft, Hautfarbe, Hobbies, Intelligenz, Ausbildung, Kontostand, Fleischesser oder Veganer – Andersartigkeit darf nicht der Grund sein, Menschen respektlos zu behandeln. Im Gegenteil: gerade die Vielseitigkeit der Menschen ermöglicht es uns, andere Perspektiven zu gewinnen. Eine gute Diskussion lebt von unterschiedlichen Argumenten. Nur durch viele unterschiedliche Meinungen können wir von einander lernen und gute Lösungen finden.

Wenn die Andersartigkeit zum Fanatismus wird

Doch was ist, wenn der Einzelne mit seiner Meinung fanatisch wird? Wenn ein Mensch oder eine Menschengruppe ihre Andersartigkeit frei ausleben wollen?

Wenn der befreundete Veganer Sie jeden Tag über die negativen Folgen des Fleischkonsums belehrt?

Wenn der muslimische Kollege im Büro den Teppich ausrollt und einfach im Flur anfängt zu beten?

Die christliche Schwiegermutter Ihnen jeden Tag Moralpredigten hält, wie schlimm es ist, dass Sie nicht an Gott glauben und die Kinder nicht getauft haben?

Der Teenager bevorzugt nach 22 Uhr Schlagzeug in der Nachbarwohnung übt, während Sie sich genervt im Bett hin und her wälzen?

Die einzige Frau im Raum ihre Emanzipation auslebt und die Diskussion immer wieder von Vorne beginnt, obwohl alle anderen (männlichen) Anwesenden sie bereits in der Entscheidung überstimmt haben?

Respekt braucht Grenzen

Mein Gefühl ist, dass wir in einer neurotischen Gesellschaft leben. Jeder gehört auf einmal einer Minderheit an. Fühlt sich respektlos behandelt. Pocht auf Gleichberechtigung.

Wir müssen dringend innehalten und tief ausatmen. Uns wieder auf den gesunden Menschenverstand besinnen. Und dazu gehört auch, dass Respekt Grenzen braucht.

Gedanken und Gefühle sind frei und wirken erstmal nicht direkt auf andere. Aber unser Handeln hat Auswirkungen auf andere Menschen. Und hier brauchen wir klare Grenzen, was geht und was nicht gehen darf. Bei allem Respekt müssen wir also dem Handeln des Einzelnen Grenzen setzen!

Als offene Gesellschaft lassen wir den Bau von Moscheen zu. Das finde ich super. Denn so kann jeder seiner Religion in Deutschland nachgehen. Doch warum darf ich dann als Nicht-Muslim diese Gotteshäuser nicht uneingeschränkt betreten — während der Kölner Dom täglich von Hunderten Menschen aller möglichen Nationen und Glaubensrichtungen besucht werden darf? Sollten wir nicht unsere deutschen Wert-Maßstäbe für Offenheit und Gleichberechtigung anlegen? Heißt: Wer in Deutschland ein Gotteshaus baut, muss es für alle Menschen zugänglich machen? Darf Menschen nicht auf Grund von Geschlecht unterschiedlich behandeln?

Anderes Beispiel: Die FAZ schreibt, dass es rund 60 verschiedene Geschlechter gebe. Zu respektieren, dass Menschen unterschiedlich denken und fühlen, ist richtig und gehört zu einer offenen Gesellschaft dazu. Insofern werden wir schon für jeden die passende Geschlechts-Formulierung finden. Aber beim Handeln müssen wir Grenzen setzen. Was ist, wenn jedes Geschlecht eine eigene Toilette fordert? Hier ist nicht uneingeschränkter Respekt, sondern gesunder Menschenverstand gefragt.

Doch dazu gehört auch der Mut, unbequem zu sein, Haltung zu zeigen und seine Meinung zu sagen — auch wenn Sie nicht dem aktuellen Weichspüler-Mainstream entspricht.

Kant hat uns bereits vor rund 200 Jahren diese Grenze aufgezeigt:

„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“

Wir brauchen also dringend ein neues Verständnis von Respekt. Es geht nicht darum, dass Sie Ihr Ansehen stärken. Lassen Sie die Ellbogen drin. Wir brauchen dem tierisch wütenden Volk nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen, sonst verlieren noch mehr Menschen im Alltag die Nerven und rasten aus.

Doch wie könnte bei all dem Streben nach Selbstverwirklichung und Bedeutung des Einzelnen, eine sinnvolle Richtung für unsere Gesellschaft aussehen? Auch hier gibt es bereits uralte Lösungen. Denken wir kurz an Jean-Jacques Rousseau:

„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,
dass er tun kann, was er will,

sondern, dass er nicht tun muss,
was er nicht will.“

Das könnte eine hilfreiche Ausgangsbasis sein, um unser Verständnis von Respekt zu diskutieren. Es mag zwar banal klingen, sich mit den Basics zu beschäftigen. Doch diese Basics sind in dem Fall unsere Werte. Und wenn es um unsere Werte geht, gibt es keine Kleinigkeiten mehr. Denn diese Kleinigkeiten sind das Entscheidende, was unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben ausmachen.

Also: Was verstehen Sie unter Respekt? Und noch viel wichtiger: Wie sieht für Sie respektvolles Verhalten aus?

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